Vollmondnacht wider Willen
Die Nacht brach herein und hüllte die Landschaft in Dunkelheit und das kleine Dörfchen in Schweigen. Niemand war mehr auf der Straße unterwegs. Sie hatten sich in Sicherheit gebracht. Zu Recht, denn am Himmel stand der große, runde Mond, im Moment noch verhüllt von dunklen Wolken. Die dunklen Fetzen am Himmelszelt verliehen dem Mond ein schauriges Aussehen, das alleine schon die Bewohner in Angst und Schrecken versetzte. Doch nicht nur der Schein des vollen Mondes rief Panik hervor, sondern auch das Heulen und Knurren, das nun immer lauter wurde. Eher jedoch versetzte sie das Tier, dessen Laut das Heulen war, in einen angstvollen Zustand.
Was für andere Legenden und Geschichten waren, war für das kleine Dörfchen am Fuße des Gebirges pure Realität. Alle Erzählungen, die man nur allzu oft für unwahr hielt, hatten einen wahren Kern, auch wenn er manchmal klein und unbedeutend war. Dieser Kern hier war es nicht. Er war riesig, hatte tiefschwarzes Fell und riss gerne jedes Lebewesen, das vor seine Schnauze kam. Die Rede ist von einem Werwolf. Ein verfluchter Mensch, der dazu verdammt ist sich beim Schein des Vollmonds in ein Biest zu verwandeln, unfähig sein Tun und Handeln zu steuern. Der netteste Mensch kann im Wesen eines Wolfes zum mordlüsternen Monster werden und selbst seine Freunde schwebten dann in höchster Gefahr.
Das Heulen des Wolfes schallte durch das Tal, verstärkt durch die Felsenwände rund herum. Irgendwo wurde ein Fensterladen laut zugeschlagen. Der Wolf könnte ja durch das Fenster ins Haus eindringen und die Kinder aus ihren Betten stehlen. Man wollte nichts riskieren.
Immer lauter wurde das Knurren und Geheule. Das Tier war nun in den Gassen des Dörfchens unterwegs und suchte nach etwas Essbarem. Die Ältesten hatten beschlossen am Dorfplatz eine Ziege anzubinden, um dem Wolf etwas zu fressen zu bieten, damit er schnell wieder verschwinden konnte. Doch der Werwolf war wählerisch, er ließ das ängstlich schlotternde Tier links liegen. Etwas anderes hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Ein lieblicher Duft lag in der Luft und umspielte seine empfindliche Nase.
Schnell hatte er die Fährte aufgenommen und pirschte sich heran. Ein kleines Mädchen mit blondgelocktem Haar stand am Dorfbrunnen, warf Steinchen hinein und gluckste dabei erfreut. Welch fahrlässige Eltern es doch haben musste, doch diese würden am nächsten Tag nur noch das rote Häubchen finden, welches das Kind trug. Bei näherer Betrachtung sah es sogar aus wie ein roter Umhang. Auf den Wolf wirkte das Kind wie ein Geschenk und das rote Cape war die Schleife, die das Ganze krönte und nur darauf wartete, heruntergerissen zu werden.
Ohne Geräusche zu verursachen, schlich sich das Tier an seine Beute, bereit jeden Moment zu springen und sich den kleinen Snack zu gönnen, der da so seelenruhig spielte, und nun begann vor sich hin zu summen. Er bleckte die Zähne und sprang los. Welch leichte Beute.
Doch genau in jenem Moment, in dem er sich schon auf das Fressen freute und schon fast dabei war es zu Boden zu reißen, wandte sich das Kind schelmisch grinsend um und holte aus. Es hatte einen langen Holzprügel in der Hand und schien sehr gewandt damit umgehen zu können. Mit einem nahezu perfekten Schlag traf es den Wolf in die Magengrube und stoppte somit seinen Sprung. Mit gequältem Winseln landete er auf dem harten Steinboden. Sofort rappelte sich der Werwolf wieder auf und baute sich in voller Größe vor dem Mädchen auf, versuchte es mit einem lauten Knurren zu verschrecken und bedrohlich zu wirken.
Das blonde Kind dachte jedoch nicht einmal daran, sich ängstlich zu geben. Erneut holte sie aus und schlug nach dem Tier, das erschrocken zurückwich. Wie konnte es nur, es war doch nur mickriges Futter. Erneut setzte er an, nach dem kleinen Menschlein zu schnappen, und kassierte dafür wiederum einen Schlag, diesmal auf die Schnauze.
Geknickt winselnd machte er sich daran, davonzueilen, weit weg von diesem brutalen Kind, welches ihm eines nachrief. „Leg dich nicht mit Rotkäppchen an!“