Süße Freiheit

Vorsichtig schlich sie durch den dunklen Gang. Die Bewegungsmelder durften sie nicht erfassen, sonst ging nicht nur das Licht am Gang an, sondern auch ein Lämpchen im Erzieherzimmer. Eng an die Wand gepresst bewegte sie sich fort. Bei jedem Geräusch hielt sie inne und hielt die Luft an. Die Tür, die zu der Treppe führte war noch weit entfernt, also wäre es dumm jetzt los zu laufen. Am Ende des Ganges war die große Brandschutztür und gleich daneben befand sich das Zimmer des Erziehers. Dem Mädchen graute vor dem Gedanken, erwischt zu werden. Wie viele Punkte man wohl für das nächtliche umherschleichen und gewolltes Verschwinden aus dem Internat bekommen würde? Sie wollte es lieber nicht herausfinden. Langsam schlich sie weiter, immer noch eng an die Wand gepresst. Ihr Atem ging regelmäßig und leise. Ihre Gedanken rasten genau wie ihr Herz bei jedem Schritt. Das Gewissen riet ihr umzukehren. Nein, sie würde nicht aufgeben! Niemals! Sie musste einfach heute Nacht hier raus. Endlich hatte sie die Mitte erreicht und damit auch ihr ein Hindernis: der Heizkörper. Vorsichtig löste sie sich von der kalten Wand. Ein kleiner Fehltritt würde reichen um den Melder zu aktivieren. Zentimeter um Zentimeter schob sie sich vorwärts an dem Heizkörper entlang. Die Luft blieb ihr weg. Jeder Muskel ihres Körpers spannte sich noch mehr an. Das Ding war zwar nicht länger als ein paar wenige Meter, dennoch kam er ihr endlos lang vor. Endlich.  Zufrieden hatte sie das Hindernis passiert. Wieder presste sie sich eng an die Wand und setze ihren Weg fort. Nach ein paar Schritten stellte sie fest mit einem Lächeln auf den Lippen fest, wie viel Glück sie hatte, das auf dieser Seite des Ganges nur der Heizkörper und nicht der Feuerlöscher hing. Dieser stand weiter von der Wand ab. Den Kopf wieder nach vorne wendend, schlich sie weiter. Nach einer Ewigkeit erreichte sie die Brandschutztüre. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt. Kein Geräusch durfte verursacht werden. Es war ein heikler Moment, da das Erzieherzimmer direkt zu ihrer linken lag. Nachdem sie sich durch den schmalen Spalt gezwängt hatte, atmete sie erleichtert auf.

Das Licht im Treppenauf-/abgang war noch an. Dies ermahnte sie zu mehr Vorsicht. Vielleicht war in den unteren Stockwerken noch ein Erzieher unterwegs. Man konnte nie wissen. Zügig, aber dennoch auf jedes Geräusch achtend, machte sie sich daran, die Stufen hinab zu steigen. Die Stufen waren beleuchtet, in den Gängen jedoch herrschte völlige Dunkelheit. Das Lichte machte es ihr leichter hier rauszukommen. Normalerweise war sie nämlich sehr ungeschickt und hätte vermutlich im Dunkeln eine Stufe verfehlt. Dennoch langsam hinab schreitend lauschte sie in die Stille. Nichts war zu hören, außer ihr eigener Atem. Je tiefer sie kam, desto entspannter und unvorsichtiger wurde sie. Fast wäre sie deswegen trotzdem runtergefallen. Rechtzeitig fing sie sich jedoch am Geländer und hielt sich den restlichen Weg fest. Endlich hatte sie das Erdgeschoss erreicht. Alle Vorsicht in den Wind blasend eilte sie auf den Haupteingang zu. Hocherfreut drückte sie die Türschnalle nach unten. Verschlossen. Enttäuschung machte sich in ihr breit. Sie rüttelte noch ein paar Mal, um wirklich sicher zu gehen. Im Gedanken fluchend schlich sie zur Treppe, die ins Untergeschoss führte. Unten waren zwei weitere Türen, die ihr nach draußen helfen konnten. Eine davon musste immer offen sein, falls es zum Brandfall kam. Da dort unten keine Zimmer waren lief sie die Treppe einfach hinunter. Wer sollte sie jetzt noch entdecken? Die Anspannung fiel mit jedem Schritt. Nur noch wenige Meter. Freudig streckte sie den Arm nach der Klinke aus. Endlich, bald würde sie draußen sein. Plötzlich, als sie die Türschnalle schon fest umklammerte, ruhte eine Hand auf ihrer Schulter. Geschockt hielt sie inne. Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht, der Puls begann zu rasen. Langsam wandte sie sich um, während sie über eine Ausrede nachdachte. Der Besitzer der Hand lächelte sie schelmisch an. Als sie merkte, wer es war, war sie erleichtert, aber auch sauer. Er lächelte immer noch und unterdrückte ein Lachen. Sie kniff ihn kurz. Danach öffnete sie endlich die Tür. Süße Freiheit!

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